Der Prophet Hosea (16) - Die Klage des Herrn über Israel (Hosea 6,4-11)

Lesezeit: 5 Min.

II: Das gottlose Verhalten Ephraims und Judas (V. 4-11)

In diesem Abschnitt spricht Hosea über den verdorbenen Zustand des Volkes Israels und die Zukunft Judas, denen Gott Gnade und Wiederherstellung verheißt.

Frömmigkeit wie Tau (V. 4-6)

Nachdem Hosea in den Versen 1-3 die Zukunft Israels vorgestellt hatte, kommt er in Vers 4 wieder auf den damaligen Zustand Ephraims und Judas zurück (Nord- und Südreich). Dort mangelte es an Frömmigkeit: „Was soll ich dir tun, Ephraim, was soll ich dir tun, Juda, da eure Frömmigkeit1 wie die Morgenwolke ist und wie der Tau, der früh verschwindet“ (Hos 6,4)?

Ihre Frömmigkeit glich einer Morgenwolke, die durch die aufgehenden Strahlen der Sonne schön aussieht, aber schnell verschwindet, wenn die Sonne höher steigt. Gleichzeitig glich ihre Frömmigkeit dem Tau. Dieser glitzert im ersten Moment im Morgenlicht, verschwindet aber ebenfalls schnell, sobald die Sonne sich erhebt.

Mit diesen Bildern möchte der Prophet zum Ausdruck bringen, dass ihre Frömmigkeit Schwankungen und Wandlungen unterworfen war, bis sie schließlich ganz verschwand, wie die Morgenwolke und der Tau beim Aufgang der Sonne.

Gottes Bemühungen durch seine Boten

Diesen Niedergang hatte Gott unter dem Volk früh wahrgenommen. Er sah, dass der Zustand von Ephraim und Juda immer gottloser wurde. Deshalb hatte Er sich früh aufgemacht und ihnen seine Diener und Propheten gesandt, um dem Verfall entgegenzuwirken und sie zu einem Leben in echter Frömmigkeit zurückzugewinnen (Hos 6,5; vgl. 2. Chr 36,15.16). Die Diener und Propheten hatten dabei eine ernste Botschaft an das Volk zu richten, die Gericht zum Inhalt hatte, das sie treffen sollte, wenn sie keine Buße täten. Dadurch wurde das Gewissen des Volkes „behauen“ (Hos 6,5). Doch statt die Boten Gottes anzunehmen und Buße zu tun, töte das Volk sie und verwarf deren Botschaft (Mt 23,34.35). Das hatte zur Folge, dass der Niedergang fortschritt, bis er schließlich seinen Tiefpunkt erreichte. Daher würde sie Gericht treffen, das sein würde „wie das Licht“, das hervorgeht, dessen niemand sich entziehen kann (Hos 6,5).

Opfer oder Frömmigkeit?

Inmitten ihres traurigen und unbußfertigen Zustands opferten sie indessen Gott. Ihre Opfer stellten jedoch nur eine äußere religiöse Form dar, die aus Herzen hervorgebracht wurden, die weder durch die Erkenntnis Gottes noch durch Frömmigkeit geprägt waren. So glaubte das Volk, Gott zufriedenstellen zu können, indem es Ihm Opfer brachte, während es seine Erkenntnis und seine Frömmigkeit verwarf bzw. aufgab (Hos 4,6). Deshalb muss Gott sagen: „An Frömmigkeit habe ich Gefallen und nicht am Schlachtopfer, und an der Erkenntnis Gottes mehr als an Brandopfern“ (Hos 6,6). In dieser Haltung konnte Gott ihre Opfer nicht annehmen. Im Gegenteil. Ihre (formellen) Opfer konnten die Frömmigkeit und Erkenntnis Gottes nicht ersetzen noch sie in irgendeiner Form aufwiegen. Eine rein äußere Handlung erkennt Gott nicht an noch billigt Er sie.2

Im Matthäusevangelium wird der Vers aus Hosea 6,6: „Denn an Frömmigkeit habe ich Gefallen und nicht am Schlachtopfer, und an der Erkenntnis Gottes mehr als an Brandopfern“ zwei Mal zitiert (Mt 9,13; 12,7). Daraus lassen sich zwei Grundsätze entnehmen, die es wert sind, aufzugreifen:

  1. Gott kann vom Menschen nur Früchte annehmen, die aus einem reinen und frommen Herzen hervorgebracht werden.
  2. Gott kann nur durch seine eigenen Gnade befriedigt werden. Das Herz des Menschen kann Ihm von Natur aus nichts bieten. Es ist „verdorben“ und „voller Gewalttat“ (1. Mo 6,11). Alles, was der Mensch Gott bringen möchte, muss seine Gnade zum Ursprung haben.

Ungehorsam als Folge fehlender Frömmigkeit

Das moralisch gottlose Verhalten hatte indessen nicht nur zu einer äußeren und religiösen Form im Bringen von Opfern geführt, sondern auch dazu beigetragen, dass das Volk den Bund übertrat: „Sie aber haben den Bund übertreten wie Adam, haben dort treulos gegen mich gehandelt“ (Hos 6,7). Wie Adam im Garten Eden gegen den Bund mit Gott verstoßen hatte, als er das einzige Gebot übertrat, übertrat Israel den Bund vom Sinai. Sie handelten eigenwillig und im Ungehorsam Gott gegenüber, ein typisches Kennzeichen fehlender Frömmigkeit. Dieses Verhalten würde nicht folgenlos bleiben. Wie Adam und Eva in Folge ihrer Übertretung aus dem Garten vertrieben wurden, wurde auch Israel aus dem Land der Verheißung vertrieben.3 Damit verloren sie (für eine bestimmte Zeit) allen Segen, den Gott ihnen zugesprochen hatte.

Die Geschichte des Volkes Israels enthält auch für uns Belehrungen, die es ebenso gilt zu bedenken. So zeigt uns das Verhalten Israels, dass fehlende Frömmigkeit früher oder später zu Religiosität sowie zu Ungehorsam und Untreue führt. Daher sollten wir uns zur Gottseligkeit (Frömmigkeit) üben (1. Tim 4,7). Grund dazu haben wir genug, denn: „… anerkannt groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit“ (1. Tim 3,16).

Ephraims Sünde und Judas Hoffnung (V. 8-11)

In den Versen 8-10 wendet der Prophet sich wieder Ephraim zu, in Vers 11 Juda. So geht es „hin und her“, von dem „einen zum anderen“. In diesen Versen wird auch die Angst des Propheten zu Tage gefördert, der von „Schauderhaftem“ spricht, sowie dessen Entrüstung über die Verachtung Gottes durch das Volk (vgl. Hos 6,10).

Ephraims Sünde (V. 8-10)

Vers 8 beginnt, indem Hosea den schrecklichen Zustand in Ephraim (Nordreich) offenlegt. Überall war Ungerechtigkeit und Bluttat vorzufinden. Selbst die den Leviten zugewiesenen Zufluchtsstätten Gilead (wahrscheinlich Ramot-Gilead) und Sichem (im Land Ephraim) waren zu Schauplätzen der Gewalt (Mord und Räuberei) und Verdorbenheit (Hurerei) geworden.4 Dafür waren die Priester verantwortlich, die trotz ihrer bevorzugten Stellung keinen besseren Herzenszustand aufwiesen als das übrige Volk. Im Gegenteil. Gott muss sie tadeln und sie des Mordes bezichtigen (Hos 6,9).

Die Morde der Priester waren wohl unter dem Vorwand des Bluträchers verübt worden. Wenn dem so ist, verdeckten sie ihre Mordtaten unter dem Mantel des Gesetzes. So geschah in Ephraim, dem Gebiet des Anführers der Zehn Stämme, eine der schlimmsten Gräueltaten, die je in Israel verübt wurden.

Hurerei im Haus Israel

Hinzu kam, dass Ephraim der geistlichen Hurerei verfallen war. Sie gaben sich fremden Göttern hin und dienten ihnen (Hos 6,10). Damit verleugneten sie nicht nur ihre Beziehung zum lebendigen Gott, sondern waren im geistlichen Sinn auch Ehebrecher geworden, die durch Untreue gekennzeichnet sind.5 Durch die wiederholte Erwähnung des Götzendienstes im Propheten Hosea wird deutlich, dass diese Sünde eine der großen „Kardinalsünden“ des Volkes war.

Hoffnung für Juda (V. 11)

Zum Schluss des Kapitels wendet sich der Prophet an Juda: „Auch über dich, Juda, ist eine Ernte verhängt, wenn ich die Gefangenschaft meines Volkes wenden werde“ (Hos 6,11; vgl. 5. Mo 30,3). Die Ernte, die über Juda verhängt ist, ist keine „Gerichtsernte“, sondern eine „Gnadenernte“, bei der der Herr die Gefangenen befreien und zurückführen wird: „Führe unsere Gefangenen wieder zurück, Herr, wie Bäche im Mittagsland“ (Ps 126,4)! Es ist die Ernte des Überrests aus Juda, denen der Prophet Gnade verheißt, die in der Wendung ihrer Gefangenschaft zum Ausdruck kommt.

Unter der Wendung ist jedoch nicht die Rückkehr Judas aus der Gefangenschaft in Babylon gemeint, sondern eine spätere Wiederherstellung, die das Volk einmal erleben wird bei der Erscheinung des Herrn Jesus in Macht und großer Herrlichkeit.6 Dann wird Er die Gefangenschaft eines bußfertigen Volkes, den Überrest aus Juda, „ernten“ und für sich besitzen.

Diese zukünftige Gnadenabsicht offenbart das Herz Gottes. Soeben hatte Er in Bezug auf Juda noch von Gericht gesprochen. Nun kündigt Er Gnade an. Henri Rossier merkt an: „Niemals findet Er seine Ruhe in seinen Gerichten. Kaum hat Er das Unglück, das das entartete Volk und die Bewohner der Erde erreichen wird, angekündigt, als Er auch schon einlädt und in der Entfaltung seiner Gnade seine Ruhe findet.“7

Fußnoten

  • 1 Der Begriff „Frömmigkeit“ kommt in der Bibel häufig vor. Es ist ein Ausdruck der Beziehung der Seele mit und zu Gott (Gottseligkeit).
  • 2 J.N. Darby bemerkt: „Das Herz Gottes verlangt nicht nach äußeren Formen: Die inneren Beziehungen zu Gott waren es, an denen es mangelte. Er hatte Propheten erweckt, die als Mittel dienen sollten, um die Herzen des Volkes wieder in Beziehung zu Ihm zu bringen, Doch wie Adam im Garten Eden, so hatten sie den Bund gebrochen, von dem der Genuss der Segnungen abhing, mit denen Gott sie überhäuft hatte.“ (Synopsis - Jesaja bis Maleachi)
  • 3 Hierzu bemerkt A.C. Gaebelein: „Man hat auf einen bedeutsamen Unterschied aufmerksam gemacht: Während der Mensch als „Sünder“ bezeichnet wird, werden die Nationen als solche nie „Übertreter“ genannt. Wir lesen im Neuen Testament von „Sündern aus den Nationen“ (Gal 2,15), aber nie von „Übertretern aus den Nationen“. Adam, dem ein Gesetz gegeben war, brach dieses Gesetz und wurde dadurch zum Übertreter. Die Israeliten, die unter Gesetz lebten, brachen dasselbe und wurden ebenfalls zu Übertretern. Doch die Nationen waren weder einen Bund eingegangen noch Empfänger des Gesetzes gewesen. Obwohl sie somit verlorene Sünder sind, werden sie nicht als „Übertreter“ in dem Sinn bezeichnet, in dem man die Angehörigen des Bundesvolkes „Übertreter“ nennt.“ (Kommentar zur Bibel)
  • 4 Vgl. Jos 20,7-9
  • 5 Es ist davon auszugehen, dass sie nicht nur „geistliche“ Hurerei trieben, sondern auch im buchstäblichen Sinn in Ehebruch lebten.
  • 6 Dass hier nicht Judas Gefangenschaft in Babylon gemeint sein kann, geht aus dem Titel hervor, den Gott hier für das Volk gebraucht: „meines Volkes“ (Hos 6,11). Zur Zeit ihrer Gefangenschaft in Babylon war das Volk weiter „Lo-Ammi“ (Nicht-mein-Volk). Erst wenn der Herr Jesus erscheinen wird, um Juda zu befreien und in das Tausendjährige Reich einzuführen, wird es wieder „mein Volk“ sein. Damit ist die Verheißung in Vers 11 noch zukünftig - auch aus unserer Sicht heute. Der gesamte Vers ist prophetischer Art.
  • 7 „Betrachtungen über das Buch des Propheten Hosea“
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